Three Mile Island und seine Folgen | NZZ (2024)

Der Reaktorunfall von Three Mile Island vor 30 Jahren war ein einschneidendes Ereignis für die Kernenergie. Die Lehren, die aus diesem Unfall gezogen wurden, haben Kernkraftwerke zwar sicherer gemacht. Zugleich beschleunigte sich aber der Niedergang der Kernenergie.

Christian Speicher

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In den frühen Morgenstunden des 28. März 1979 ereignete sich in Block 2 des Kernkraftwerks Three Mile Island in der Nähe von Harrisburg ein folgenreicher Unfall. Wie sich im Nachhinein herausstellen sollte, wurde bei dem Störfall ein Drittel des Reaktorkerns zerstört. Auch wenn der Druckbehälter des Reaktors intakt blieb und nur relativ geringe Mengen Radioaktivität in die Umwelt gelangten, war damit eingetreten, was bis dahin bei Risikoabschätzungen stets als vernachlässigbare Grösse gegolten hatte. Entsprechend gross war die Konsternation. Weltweit wurden die bis dahin geltenden Sicherheitsrichtlinien unter die Lupe genommen und überarbeitet. Rückblickend kann man sagen, dass der Unfall von Three Mile Island mehr in Bewegung gesetzt hat als der ungleich gravierendere Reaktorunfall in Tschernobyl sieben Jahre später.

Eine Verkettung von Fehlern

Was damals in Harrisburg geschah, ist heute bis ins letzte Detail rekonstruiert. Der Reaktor – ein nahezu fabrikneuer Druckwasserreaktor mit einer elektrischen Leistung von 900 Megawatt – lief in der fraglichen Nacht mit 97 Prozent seiner nominellen Leistung, als im sekundären Kühlkreislauf die Hauptspeisepumpen ausfielen. Als daraufhin die Temperatur im primären Kühlkreislauf stieg, wurde der Reaktor automatisch abgeschaltet. Die Nachzerfallswärme liess den Druck im Primärkreislauf jedoch ansteigen. Gemäss Auslegung öffnete sich daraufhin das auf dem Druckhalter angebrachte Sicherheitsventil, durch das der Überdruck entweichen konnte. Das Ventil hätte sich eigentlich zehn Sekunden später wieder schliessen sollen. Es blieb aber offen. Von den Operateuren blieb das unbemerkt, weil es keine Anzeige für die Stellung des Ventils gab. Dadurch entwich Kühlwasser, das eigentlich den Reaktorkern kühlen sollte.

Das Ventil blieb auch offen, als automatisch zusätzliches Wasser in den Reaktorkern gepumpt wurde. Als ein Messinstrument einen Anstieg des Wasserspiegels im Druckhalter signalisierte, drosselten die Operateure die automatische Wasserzufuhr, weil sie fälschlicherweise davon ausgingen, der Reaktorkern sei von Wasser bedeckt (auch hierfür gab es keine Anzeige); in Wirklichkeit hatte sich über und in dem Kern eine Dampfblase gebildet. Als der Fehler erkannt wurde, war der Reaktorkern bereits teilweise geschmolzen. Zudem hatte sich Wasserstoff gebildet, der sich in der Dampfblase sammelte und den Operateuren in den folgenden Tagen noch einiges Kopfzerbrechen bereitete. Es verging fast ein Monat, bis man den Reaktor voll unter Kontrolle hatte.

Was vor 30 Jahren passiert sei, sei auf eine Verkettung mehrerer Umstände zurückzuführen, sagt Roland Naegelin, der damals Mitglied der Abteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (ASK) in der Schweiz war und später zu deren Direktor wurde. Technisches Versagen habe sich mit menschlichen Irrtümern, mangelhaften Betriebsvorschriften und einer ungenügenden Auslegung des Reaktors gepaart. Zudem habe es an der nötigen Kommunikation zwischen Herstellern, Kraftwerksbetreibern und den Aufsichtsbehörden gefehlt. So sei 1977 ein ähnlich gelagerter, aber glimpflich ausgegangener Vorfall in einem amerikanischen Kernkraftwerk des gleichen Herstellers zwar von der amerikanischen Aufsichtsbehörde untersucht worden; das habe aber zu keinen entsprechenden Massnahmen oder geänderten Störfallvorschriften geführt. Industrie und Sicherheitsbehörden hätten damals noch nicht über Institutionen und Methoden für eine systematische Auswertung von Vorfällen verfügt, so Naegelin rückblickend.

Strengere Auflagen

Solche Laxheiten konnte man sich nach Harrisburg nicht mehr erlauben. Der Unfall habe sowohl die Nuklearindustrie als auch die nukleare Aufsichtsbehörde dauerhaft verändert, heisst es in einem Faktenblatt der amerikanischen Nuclear Regulatory Commission (NRC) zu Three Mile Island. Zu den Massnahmen, die nach dem Unfall ergriffen wurden, gehörten strengere Auflagen hinsichtlich der Auslegung und der Ausrüstung von Kernkraftwerken. Mehr Redundanz und Fehlertoleranz hiess fortan die Devise. Der Informationsaustausch mit dem Ausland wurde gefördert, die Schulung des Kraftwerkpersonals wurde intensiviert, und es wurden Notfallpläne zur Evakuierung der Bevölkerung im Umkreis der Kernkraftwerke erarbeitet. Zudem wurden neue Störfallvorschriften erstellt. Die erste Sorge der Operateure hatte nun der Kühlung des Reaktorkerns zu gelten. Dazu wurden standardisierte Checklisten mit Ja-Nein-Fragen erstellt, die die Operateure Punkt für Punkt abzuarbeiten hatten.

Um den Erfolg dieser Massnahmen zu untermauern, verweist die NRC in einer jüngst veröffentlichten Pressemitteilung auf eigenes Zahlenmaterial. Seit Februar 1980, auch dies eine unmittelbare Folge von Harrisburg, sind die Betreiber der amerikanischen Kernkraftwerke verpflichtet, sicherheitsrelevante Ereignisse in ihren Anlagen an die NRC zu melden. Die Zahl dieser Ereignisse hat von 2,5 pro Anlage im Jahr 1985 auf 0,1 pro Anlage im Jahr 2007 abgenommen. Auch andere Zahlen der NRC belegen, dass amerikanische Kernkraftwerke seit dem Unfall von Three Mile Island sicherer geworden sind.

Die Folgen für die Schweiz

Auch die Schweiz blieb von dem Störfall in Harrisburg nicht unberührt. Damals waren drei der heute fünf Kernkraftwerke in Betrieb: die beiden Druckwasserreaktoren Beznau 1 und Beznau 2 sowie der Siedewasserreaktor Mühleberg. Das Kernkraftwerk Gösgen, ebenfalls ein Druckwasserreaktor, befand sich gerade in der Anlaufphase und hatte 80 Prozent seiner nominellen Leistung erreicht. Am 6. April 1979 forderte der Leiter der ASK, Peter Courvoisier, die Betreiber der Kernkraftwerke in einem Brief auf, die Sicherheit ihrer Anlagen im Lichte der Ereignisse von Harrisburg eingehend zu überprüfen. Zwei Wochen später folgte ein weiterer Brief mit einer Liste von 29 Fragen und Forderungen.

Bundesrat Ritschard machte in einem Brief an die ASK klar, dass die schweizerischen Kernkraftwerke stillzulegen seien, sollte auch nur der geringste Zweifel an ihrer Sicherheit auftreten. Dafür sah die ASK jedoch keine Veranlassung. In einem ersten Zwischenbericht an den Bundesrat wies sie auf Schwächen des Three-Mile-Island-Reaktors und auf Unterschiede zu den Druckwasserreaktoren in Beznau und Gösgen hin. Ein Ereignis wie in Harrisburg könne in der Schweiz zwar nicht als undenkbar ausgeschlossen werden, heisst es in dem Bericht, es dürfe jedoch mit guten Gründen als sehr unwahrscheinlich betrachtet werden. Lediglich die Inbetriebnahme des Reaktors in Gösgen wurde um einige Monate verschoben. Die ASK habe damals schlicht keine Zeit gehabt, sich um Gösgen zu kümmern, sagt Naegelin. Die Untersuchung der bereits in Betrieb stehenden Kernkraftwerke und die Umsetzung der verschärften Sicherheitsvorschriften habe absolute Priorität gehabt.

Diese Verschiebung der Prioritäten wirkte sich auch auf den umstrittenen Bau eines Kernkraftwerks in Kaiseraugst aus. Für den Reaktor lagen fast alle Bewilligungen vor, und es war sogar schon mit dem Bau von Strassen und Kanälen begonnen worden (was 1975 zu einer Besetzung des Baugeländes führte). Was der Betreibergesellschaft allerdings noch fehlte, war die nukleare Baubewilligung. Nach den Ereignissen von Harrisburg rückte diese in weite Ferne. Aus personellen Gründen konnte sich die ASK erst 1983 wieder dem Thema Kaiseraugst zuwenden. Nach weiteren Verzögerungen und dem Reaktorunfall in Tschernobyl wurde das Projekt 1988 endgültig begraben. Dennoch wäre es falsch, Kaiseraugst als direktes Opfer des Unfalls in Harrisburg zu sehen. Wie die Technikhistorikern Daniela Zetti von der ETH Zürich 2001 in einer Untersuchung dargelegt hatte, war der Störfall von Three Mile Island nur ein Verzögerungsgrund in einer langen Kette von Faktoren, die sich nachteilig auf den Ablauf des Bewilligungsverfahrens auswirkten.

Genauso falsch wäre es, Three Mile Island für den weltweiten Niedergang der Kernenergie in den 1980er und 1990er Jahren verantwortlich zu machen. Diese Entwicklung hatte bereits Mitte der 1970er Jahre eingesetzt, als die Bestellung neuer Reaktoren erstmals seit vielen Jahren zurückging. Zum Teil waren die Probleme der Nuklearindustrie hausgemacht, zum Teil – vor allem in der westlichen Welt – machte sich aber auch der wachsende Einfluss einer breitgefächerten Umweltschutzbewegung bemerkbar, für die der Kampf gegen die Kernenergie zum identitätsstiftenden Element wurde. Der Druck auf die politisch Verantwortlichen nahm zu, die Bewilligung neuer Kernkraftwerke zog sich immer mehr in die Länge. Der Unfall von Harrisburg beschleunigte also nur eine gesellschaftliche Entwicklung, die bereits früher begonnen hatte.

Neubeurteilung der Kernenergie

Mittlerweile wittert die Nuklearindustrie wieder Morgenluft. In den 1990er Jahren wurde in verschiedenen Ländern die Entwicklung von neuen Kernkraftwerken der «dritten Generation» vorangetrieben. Zu ihnen zählt beispielsweise der von Frankreich und Deutschland gemeinsam entwickelte Europäische Druckwasserreaktor (EPR), der nach Angaben der Hersteller nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch sicherer sein soll als die bestehenden Kernkraftwerke. Die Wahrscheinlichkeit für eine Kernschmelze sei durch die Redundanz der Systeme 90 Prozent kleiner als in herkömmlichen Druckwasserreaktoren, heisst es. Und wenn dieser Fall dennoch eintritt, verfügt der Reaktor über einen sogenannten Core-Catcher, in dem das geschmolzene Kernmaterial aufgefangen und gekühlt wird. Selbst die Auswirkungen eines extremen Unfalls sollen so auf die Anlage beschränkt bleiben.

Inzwischen sind zwei dieser Reaktoren im Bau, der eine (mit zeitlicher Verzögerung und erheblicher Überschreitung der geplanten Kosten) in Finnland, der andere in Frankreich. Weitere Reaktoren dieses Typs sind geplant. Auch in der Schweiz, wo Energieversorgungsunternehmen jüngst die Absicht bekundet haben, ein neues Kernkraftwerk zu bauen, steht der EPR auf der Liste der in Frage kommenden Anlagen. Dass die Kernenergie heute wieder salonfähig zu werden beginnt, hat allerdings nur bedingt mit der verbesserten Sicherheit der Reaktoren zu tun. Es sind vielmehr die Sorgen um einen möglichen Energieengpass sowie die absehbaren Folgen der Klimaerwärmung, die zu einer Aufweichung der einst starren Fronten geführt haben. So denken heute auch einstige Gegner der Kernenergie laut darüber nach, ob diese im Verbund mit regenerativen Energien nicht das kleinere Übel ist.

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