Was sich aus dem Reaktorunfall in Three Mile Island lernen lässt | NZZ (2024)

Christian Speicher ⋅ Für den Rückbau des Kernkraftwerks f*ckushima Daiichi wird ein Zeitraum von 30 bis 40 Jahren veranschlagt. Präzise Aussagen über die Dauer und die Kosten der Aufräumarbeiten wird man zwar erst machen können, wenn man verlässliche Informationen über

Christian Speicher ⋅ Für den Rückbau des Kernkraftwerks f*ckushima Daiichi wird ein Zeitraum von 30 bis 40 Jahren veranschlagt. Präzise Aussagen über die Dauer und die Kosten der Aufräumarbeiten wird man zwar erst machen können, wenn man verlässliche Informationen über den Zustand der havarierten Reaktoren hat. Dank den Erfahrungen, die man bei früheren Nuklearunfällen sammeln konnte, hat man aber immerhin eine ungefähre Vorstellung davon, was in den nächsten Jahrzehnten auf die Arbeiter in f*ckushima zukommen wird.

Auch die Schweiz hat in dieser Hinsicht Anschauungsmaterial zu bieten. Im Januar 1969 ereignete sich im Versuchsatomkraftwerk Lucens ein Störfall, bei dem eines der Brennelemente schwer beschädigt wurde. Die radioaktive Schmelze verteilte sich in der Felskaverne, die den Reaktor schützend umgab. Nach zwei Monaten war die Radioaktivität so weit abgeklungen, dass Arbeiter mit der Dekontamination beginnen konnten. Im weiteren Verlauf wurden zunächst die noch intakten Brennelemente geborgen. Dann begann die eigentliche Zerlegung und Demontage des Reaktors. Dabei wurden auch die gut 60 Kilogramm Uran des geschmolzenen Brennelements geborgen. Ende 1972, also vier Jahre nach dem Unfall, waren die Arbeiten abgeschlossen.

Von einem ganz anderen Kaliber war der Unfall, der sich 1979 im amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island ereignete. Nach einem Ausfall des Kühlsystems schmolzen hier fast 50 Prozent des Reaktorkerns. Die Dekontamination und der Rückbau des Reaktors dauerten zwölf Jahre und kosteten eine Milliarde Dollar. Was man dabei lernte, ist auch für f*ckushima von Relevanz.

Bei den Aufräumarbeiten in Three Mile Island erwiesen sich vor allem die grossen Mengen an radioaktiv kontaminiertem Kühlwasser als Hindernis, die durch ein offen stehendes Druckventil entwichen waren und sich am Boden des Reaktors sowie in angrenzenden Gebäuden angesammelt hatten. Da das Wasser den Zugang zum Reaktorgebäude blockierte, bestand eine der ersten Aufgaben darin, es abzupumpen, so weit wie möglich zu dekontaminieren und in speziell angefertigten Tanks zwischenzulagern. Insgesamt wurden während der zwölf Jahre fast zehn Millionen Liter Wasser aufbereitet.

Auch in f*ckushima Daiichi ist kontaminiertes Wasser gegenwärtig eines der Hauptprobleme. Allerdings geht es hier um ganz andere Dimensionen. Seit dem Unfall sind bereits 230 Millionen Liter Kühlwasser abgepumpt und in Tanks gelagert worden. Und es werden täglich mehr. Zwar hat die Betreiberfirma Tepco inzwischen einen provisorischen Kühlkreislauf aufgebaut, der es erlaubt, das aus den Kernreaktoren austretende Kühlwasser abzupumpen, aufzubereiten und zur Kühlung erneut in den Reaktor zu pumpen. Geschlossen ist dieser Kreislauf jedoch nicht. Der Grund ist, dass auch Grundwasser in die Reaktorgebäude eindringt und sich dort mit dem kontaminierten Kühlwasser vermischt. Um dieser Wassermassen Herr zu werden, müssen ständig neue Tanks auf dem Gelände aufgestellt werden. Bis zum Jahr 2015 soll die Speicherkapazität auf 700 Millionen Liter aufgestockt werden.

Der Ausbau der entsprechenden Infrastruktur werde durch die teilweise immer noch recht hohe Strahlenbelastung auf dem Gelände erschwert, sagt Dave Lochbaum, der bei der Union of Concerned Scientists die Abteilung für nukleare Sicherheit leitet. In Three Mile Island sei die Radioaktivität hingegen weitgehend auf das Innere des Reaktors beschränkt gewesen. Lochbaum sieht allerdings auch hoffnungsvolle Zeichen. Heute gebe es viel effizientere Methoden zur Filterung und zur Aufbereitung des kontaminierten Wassers als damals.

Das gleiche Argument macht Lochbaum auch bei der wahrscheinlich schwierigsten Aufgabe geltend, der Entfernung des geschmolzenen Brennstoffs aus den Reaktoren. In Three Mile Island hätten die entsprechenden Techniken und Gerätschaften erst entwickelt werden müssen. Heute gebe es hingegen Firmen, die auf die Ausserbetriebnahme von Kernreaktoren spezialisiert seien und über die entsprechende Ausrüstung verfügten.

Auch hier gilt allerdings, dass sich die Aufräumarbeiten in einer anderen Dimension bewegen. In Three Mile Island mussten ungefähr 100 Tonnen des geschmolzenen Brennstoffs aus dem noch intakten Druckbehälter des Reaktors entfernt werden. In f*ckushima werden es vermutlich mehr sein, weil es hier gleich in drei Reaktoren zu einer Kernschmelze kam. Zudem wurden bei dem Unfall die Druckbehälter der drei Reaktoren beschädigt. Der Brennstoff sei mit grosser Wahrscheinlichkeit an Orten zu finden, wo er nicht sein sollte, sagt Lochbaum. Das grösste Problem stellten vermutlich kleine Brennstoff-Teilchen dar, die mit dem Kühlwasser weggespült worden seien und nun mühsam eingesammelt werden müssten.

Trotz diesen Schwierigkeiten hält Lochbaum den von Tepco ausgearbeiteten Zeitplan für die Aufräumarbeiten in f*ckushima für realistisch. Er enthalte genug Spielraum, um auf Unvorhergesehenes reagieren zu können. Auch das sei eine Lehre aus Three Mile Island: «Nicht zu optimistisch sein.»

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